Prekarisierung von Wissenschaft und wissenschaftlichen Arbeitsverhältnissen (Leipzig, 11.-12.1.2008)

Franz Seifert

Liebe Kollegen und Kolleginnen von der IG.

Ich möchte Euch kurz über die Konferenz "Prekarisierung von Wissenschaft und wissenschaftlichen Arbeitsverhältnissen" vom 11. auf den 12. Jänner dieses Jahres in Leipzig berichten. [Programm (PDF)]. Die Tagung fand auf Initiative des Bundes demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi, http://www.bdwi.de/) statt und wurde der GEW (Bildungsgewerkschaft, http://www.gew.de/), der Rosa-Luxemburg Stiftung, dem StudentInnenRat der Uni Leipzig und der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, (http://www.verdi.de/) unterstützt. Thema der Veranstaltung waren die zunehmend prekäre Arbeitsbedingungen im Universitätssystem in der Bundesrepublik Deutschland. Neben gemeinsamen Podiumsdiskussionen fanden fünf Workshops statt. Da ich die zahlreichen Diskussionen hier nicht in ihrer Gesamtheit darstellen kann, beschränke ich mich auf eine zwangsläufig subjektive Auswahl der wichtigsten Themen und Debatten. Ich teile dabei grob in folgende Themenblöcke ein:

1. Begriffsbestimmung
2. Affirmative Positionen und Kontroversen
3. Generalthemen
4. Organisationsangebote und -strategien
5. Anregungen
6. Schlußfolgerungen und Forschungsbedarf

1. Begriffsbestimmung

Wiederholt kam man auf eine theoretisch produktive und politisch brauchbare Beschreibung des akademischen Präkariats zu sprechen. Festgestellt wurde, dass der Begriff Prekariat eine journalistische Neuschöpfung in Anlehung an den Begriff "Proletariat " ist, der mediale Griffigkeit allerdings mit inhaltlicher Simplifikation und Verzerrung erkauft. So läßt sich im Zusammenhang mit Prekariat kaum von einer Klassenlage sprechen. Diverse Beschreibungs- und Definitionsversuche verwiesen auf extreme Formen von Selbst- und Fremdausbeutung im akademischen Zusammenhang, hohe ökonomische Unsicherheit und fehlende biografische Planungshorizonte, unbefriedigende teils skandalöse Gehaltssituationen, schließlich aber auch der hohen Identifikation mit der eignen Tätigkeit.

Betont wurde auch, dass prekäre Arbeitsverhältnisse im akademischen Betrieb keine gänzlich neuen Erscheinungen sind, sondern seit Jahrzehnten existieren. Im Unterschied zu damals aber eine neue Qualität durch die enorm gestiegene Quantität der Betroffenen erlangt haben. Im Unterschied zur Vergangenheit, etwa den siebziger Jahren, wurden unsichere Arbeitsverhältnisse damals auch als temporär empfunden, was sie im Regelfall auch waren. Heute gilt das nicht mehr. Vielmehr scheinen prekäre Arbeitsverhältnisse zum mitunter lebenslangen Regelfall zu werden.

Festgestellt wurde ferner, dass prekäre Arbeitsverhältnisse keineswegs auf den akademischen Betrieb beschränkte sind. Vielmehr sind massive Prekarisierungstendenzen weithin im Wirtschaftsleben festzustellen, in extremer Form etwa im Medienbereich.

2. Affirmative Positionen und Kontroversen

Kontroversen entstanden u.a. da, wo Vertreter von Universitätsleitungen zu Wort gebeten wurden. So lieferte Wolfgang Fach, Prorektor der Uni Leipzig, eine Analyse, die den Universitäten zwar eine Teilverantwortung, nicht aber die Hauptschuld zuwies. Ursachen liegen einerseits in sozialen Trends und den Spielregeln und prekären akademischen Karrierelogiken: immer mehr Qualifizierten stehen stagnierende Mittel zur Verfügung. Akademiker geraten so in pfadabhängige Zwangslagen: Nach Jahren der akademischen Qualifikation versiegen irgendwann die Mittel, der Weg in nichtakademische Arbeitsverhältnisse verschließt sich, und man entwickelt ein verzweifeltes Interesse daran den Bezug zum akademischen Betrieb nicht zu verlieren. In dieser Situation klammert man sich an Strohhalme und nimmt auch ungünstigste Arbeitsbedingungen in Kauf. Universitäten hätten, so Fach, diese Arbeitsverhältnisse weniger nötig als diejenigen, die sie eingehen. Ihnen entstünde dadurch beispielsweise administrativer Zusatzaufwand. Eine Option der Universitäten sei daher, diese Art befristeter Lehrangebote auch ganz aufzulassen, was klarerweise nicht im Interesse der freien Lektoren wäre. Eine Lösung der Problematik, so Fach, gäbe es nicht. Ihre Leidtragenden sei der akademische Mittelbau, die Profiteure sind demgegenüber 1. die Universitäten, 2. die Studierenden.

Der Argumentation Fachs wurde entgegengehalten, dass die höheren Anforderungen an die Universitäten, etwa durch den Bologna Prozeß, und die steigenden Studierendenzahlen allein durch zusätzliches Lehr- und Forschungspersonal zu bewältigen seien. Wissenschaftliche Lehre sei nun einmal personalintensiv, Personalkürzungen könnten nur zu sinkendem Niveau führen. Auch das immer wieder beschworene Leitbild einer sich flexibel auf neue Wissensgebiete einstellenden Universität sei nur durch offenen Bezug zu externen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen zu erfüllen. Falsch sei auch die Behauptung, es sei kein Geld da. Vielmehr würden Budgetierungen als Disziplinierungsmittel gegen Universitäten eingesetzt.

Vor allem die Positionen Joachim Webers von der Hochschulrektorenkonferenz sorgten für erhebliche Kontroversen. Sein Vorschlag etwa, das Lehrangebot aus den Studiengebühren zu bezahlen - mit der Hochschulautonomie sei dieser Weg ja gangbar - rief Proteste der anwesenden Studentenvertreter auf den Plan. Weber wies ferner darauf hin, dass Lehre nie als Hauptberuf gedacht war, sondern immer nur als Nebentätigkeit zu verstehen sei, insofern auch keine besseren Konditionen erfordere. Die Diskussion reduziere sich seiner Ansicht nach auf die alleinige Frage, ob es unbefristete Arbeitsverträge unterhalb der Professorenstellung geben sollte.

3. Generalthemen

Vielfach moniert wurde die Rigidität und problematische Selbstläufigkeit des bundesdeutschen akademische Karrieremodells, welches auf eine feste Professur "irgendwann" abzielt, und dabei immer längere Abhängigkeits- und Prekaritätsphasen erzeugt, die in asymmetrischen wissenschaftlichen Arbeitsverhältnissen ausgenutzt werden und die wissenschaftliche Kreativität eher hemmen als stimulieren.

Der institutionellen Antwort, die Entscheidung, ob jemand eine Professur anstreben sollte, müsse dann eben in einer sehr frühen Karrierephase erfolgen (bzw. ausgeschlossen werden), wurde entgegnet, dass eine solch frühe Festlegung und Ressourcenfokussierung wohl kaum der Dynamik der modernen individualisierten Wissensgesellschaft gerecht werden könne.

Kritik wurde vielfach am ubiquitären Wettbewerbsgedanken laut. Warum müsse man stets auf neue Sprossen auf der Karriereleiter abzielen, und auf eine Professur hinarbeiten, die dann vielleicht nie kommt?

Einig war man sich auch in der Verteidigung der Einheit von Forschung und Lehre. Die Aufspaltung in professorale Forscher und hauptberufliche "Senior lecturers", wie an zahlreichen Universitäten geplant, sei abzulehnen.

Diskussionen drehten sich ferner um den politischen Effekt einer Prekarisierung, die offenbar verstärkt Sozial- und Geisteswissenschaften trifft. Die damit verbundene Marginalisierung kritischer Forschung und Gesellschaftsdiagnose, entzöge der Gesellschafts- und Herrschaftskritik die materielle Basis.

4. Organisationsangebote und -strategien

Die Gewerkschaften waren sehr präsent bei der Veranstaltung, so etwa Gunter Haake vom Referat für Selbstständige von ver.di (Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft), und Andreas Keller, geschäftsführender Vorstand der GEW. Als kritische bildungspolitische NGO war mit Daniel von Fromberg und Lars Bretthauer die Assoziation für politische Bildung und Gesellschaftsforschung reflect! (http://www.reflect-online.org/) vertreten.

Unter dem Motto "Wissenschaft als Beruf" fordert die GEW ein neues Verständnis von wissenschaftlicher Arbeit. Wissenschaftliche Arbeit in der ihr eigenen Kombination aus Forschung und Lehre muß eigenständig, selbstständig und auf Dauer neben der professoralen Ebene möglich sein. (Zusammenfassend: http://www.gew-berlin.de/6012.htm) Dies muß spätestens nach Abschluß der Ausbildungsphase, also der Dissertation, gelten. Eine allein auf Professuren gerichtete Struktur ist abzulehnen. Zur Bewerkstelligung von Lehre, Forschung, Weiterbildung und wissenschaftlichen Dienstleistungen sind daher wissenschaftliche Mitarbeiter "neuer Art" auf Dauer zu beschäftigen. Das Motto von "Wissenschaft als Beruf" versteht sich ferner als Kontrast zu "Wissenschaft als Berufung," einer nach Meinung der GEW Mystifizierenden Ausfassung von Wissenschaft, die diversen Formen von Selbst- und Fremdausbeutung eine irrationale Legitimation verleiht.

Bei Einigkeit in der Sache divergierten die strategischen Handlungsoptionen. Debattiert wurden die Nahziele gewerkschaftlicher Politik. Sollte dies etwa die (Wieder-)Herstellung von "Normalarbeitsverhältnissen" sein? Zugegeben wurde, dass das Thema wenig politischen appeal hatte. Die Frage war auch, ob eine Festlegung auf die Zielsetzung mehr unbefristete Stellen zu schaffen nicht auf Kosten notwendiger alternativer Arbeitsverhältnisse ginge.

Gunter Haake bemerkte, dass die Initiativen, auch Selbstständige in die gewerkschaftliche Vertretung mit einzubeziehen, zwar auf anfänglichen gewerkschaftsinternen Widerstand gestoßen war, verwies aber auf mittlerweile 30.000 vertretene Selbstständige. Haake regte an, über neue Ziele gewerkschaftlicher Politik nachzudenken, etwa eine bessere Absicherung "neuer Selbstständiger" im akademischen Bereich, was von Beratungsleistungen in zahlreichen praktische Fragen bis zum Einsatz für spezifische Versicherungsformen etwa analog der Sozialversicherung für Künstler und Literaten. Gewerkschaftliche Politik dürfe sich jedenfalls nicht allein auf Tarifverhandlungen beschränken.

5. Anregungen

Wiederholt wurde empfohlen, nach potentiellen Allianzpartner Ausschau zu halten. Dabei wurde auf die guten Erfahrungen mit den Personalräten an Hochschulen hingewiesen. Diese sollten daher in Hinkunft aufgewertet werden. Potentiell hilfreich könnten auch Rechnungshöfe sein, die vereinzelt Tendenz zeigen, universitäre Personalpolitik zu beeinflussen.

Vielversprechend war auch die Anregung, sich mit Daten und Ratings aus internationalen Vergleichsstudien - wie der Pisa-Studie und OECD Vergleiche - zu beschäftigen, da sich so am ehesten Druck auf die Politik ausüben ließe.

6. Schlußfolgerungen und Forschungsbedarf

Andreas Keller brachte am Schluß noch in sechs Punkten die Position der BdWi bzw auch GEW zum Ausdruck.

  1. Gefordert ist der massive quantitative und qualitative Ausbau der Hochschulen. Die Mittel sind vorhanden. Bisher ging die Kluft zwischen Anspruch (Bologna Prozeß, steigende explodierende Studierendenzahlen) und Wirklichkeit (zB Stagnation beim Personal) nur auseinander.
  2. Gefordert ist eine aufgabengerechte Aufgabenstruktur. Die Aufgaben der modernen Hochschule sind mit dem traditionellen Konzept der Ordinarienuniversität unvereinbar geworden. Mit der "Lebenslüge" von der Professorenkarriere müsse Schluß sein. Durch sie wird der wissenschaftliche Nachwuchs lediglich über Jahrzehnte in Abhängigkeit gehalten.
  3. Etwa 4/5 der Forschungsarbeit und 2/3 der Lehrtätigkeit entfielen auf einen immer stärker prekarisierten Mittelbau. Zurückgegriffen wird dabei auf eine "akademische Reservearmee". Allen Qualifizierten (was man nach der Dissertation ist) muß ermöglicht werden, eine wissenschaftliche Laufbahn zu wählen, daher die Forderung nach unbefristeten Verträgen.
  4. Entmystifzierung der Wissenschaft. Der Mythos, dass Wissenschaft kein Beruf sondern eine Berufung sei, ist Teil der akademischen Lebenslüge. Auch Wissenschaftler sind Arbeitnehmer - daher die Forderung nach transparenter Rekrutierung, verbesserter Planbarkeit und mehr Teamarbeit an den Unis. Nicht der selbstständige Arbeitsunternehmer sondern der unselbstständige Arbeitnehmer soll der Referenzpunkt sein.
  5. Gefordert ist eine einheitliche und zugleich flexiblere Personalstruktur. Dabei sollen aber keine neuen Personalkategorien eingeführt werden (zB senior lecturers u.ä.).
  6. Die Devise soll lauten: Prekariat bekämpfen - Prekäre schützen.

Thorsten Bultman (BdWi) schloß mit der Forderung nach verstärkter Forschung zu den subjektiven Verarbeitungsstrategien von Betroffenen (als Vorausbedingung politischer Mobilisierung), wie auch zu den konkreten Bedingungen erfolgreicher Mobilisierung. Insgesamt sei die empirische Situation unbefriedigend. Man müsse zB besser bescheid wissen über die Verbreitung von Formen extremer Arbeitsverhältnisse (zB 1 Euro und 400 Euro Jobs).

Soviel einmal mit einem - zwangsläufig subjektiven - Überblick zu der Leipziger Veranstaltung. Für Genaueres seht Euch die homepages an oder wendet Euch an mich. Kollegiale Grüsse, Franz Seifert

Tagungsband

Nachtrag Juli 2008: Der Tagungsband ist nunmehr unter http://www.rosalux.de/cms/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Manuskripte_78.pdf online.